„Weide meine Schafe!“
Johannes 21, 15-17
Jesus und seine Freunde sitzen satt und müde am Ufer des Sees Genezareth.
Der Fisch ist aufgegessen, alle Arbeit für heute getan. Alles scheint wie immer, und doch ist alles
anders. Denn Jesus ist anders lebendig. Auferstanden. Durch den Tod gegangen und trotzdem mitten unter ihnen. Ihn bei sich zu haben, ist für die Freunde seltsam: selbstverständlich und unfassbar zugleich.
Die Dämmerung legt sich über das Land und das Lagerfeuer lässt die Gesichter glühen. Jesus sucht Blickkontakt zu Petrus. Doch als der es merkt, schaut er zu Boden. Nur zu gut erinnert er sich an sein Versagen. Erst vor wenigen Tagen ist es passiert, doch heute, wo Jesus mitten unter ihnen ist, kommt es ihm so vor wie aus einem fernen Leben…
… Beim letzten gemeinsamen Abendessen vor Jesu Tod hatte sich Petrus vor Jesus aufgebaut und ihm großspurig versichert: „Ich will mein Leben für dich lassen!“ Selbstsicher und absolut überzeugt war er. Doch dann kam die Nacht mit der Gefangennahme und alle rannten weg. Petrus leugnete dreimal, Jesus zu kennen. Gerade in dem Moment, als Jesus am dringendsten einen Freund an seiner Seite gebraucht hätte, war Petrus nicht da. Als er sich später seiner Schuld bewusstwurde, konnte
er nur noch weinen. Zerbrochen lag sein Versprechen am Boden, und am liebsten hätte er sich selbst im Erdboden verkrochen…
… Als Jesus merkt, dass Petrus seinen Blicken ausweicht, steht er auf und setzt sich neben ihn. Er legt seine Hand auf Petrus‘ Hand. Beschämt schaut Petrus auf. Jesu fragendes Gesicht ist sehr nah vor seinem.
„Hast du mich lieb?“, fragt Jesus. Dreimal. So oft, wie Petrus ihn verleugnet hat. „Ja“, sagt Petrus, „Du weißt es.“ Seine Worte sind klein und leise. Keine Großspurigkeit. Seine Selbstsicherheit hat einen gehörigen Knacks bekommen. Er hat schmerzlich erfahren, dass sein großer Mut Grenzen hat.
„Dann weide meine Schafe“, bittet Jesus ihn. Petrus ist irritiert. Jesus traut ihm immer noch etwas zu? Er will, dass er, der große Versager, Verantwortung übernimmt? Dass er, auf den man sich nicht verlassen kann, sich um die Freunde kümmert?
Jesus legt Petrus nicht für immer auf das fest, was passiert ist. „Weil du einmal versagt hast, kann ich dir nicht mehr vertrauen“, solche Sätze kommen nicht aus seinem Mund. Er vertraut Petrus weiterhin. Und er traut ihm zu, dass er sich verwandeln kann. Gerade an der Erfahrung seines eigenen Versagens kann Petrus wachsen. Seine Kraft, die um sein Scheitern weiß, wird leiser und zarter werden, weniger großspurig und selbstsicher auftreten. Doch genau dieser verwandelten Kraft vertraut Jesus seine Freunde an.
Unsere Welt braucht keinen „starken Mann“. Sie braucht Menschen, die mit sich selbst und mit anderen barmherzig umgehen, die vergeben und vertrauen können und aus ihrer eigenen Zerbrechlichkeit heraus andere wahrnehmen.
Petrus hat sich verwandelt. Weil Jesus ihm vertraut, muss er nicht zerbrochen bleiben. Und diesen neuen Petrus macht Jesus zu einer Leitfigur: „Weide meine Schafe!“
Pfarrerin Anja Strehlau